Von der Leistungsgesellschaft

Ein Bekannter, ein älterer Herr, meinte unlängst im Gespräch, im Leben ginge alles um Leistung. Da musste ich ihm sagen, dass ich diese Erfahrung bisher nicht gemacht hatte. 

Das einzige Mal, als ich zu mehr Leistung ermahnt wurde, war kurz nach Beginn meiner Gymnasialzeit im Sportunterricht. Der Lehrer rief mir zu: "Leistung zeigen!" Ich wunderte mich, welchen Sinn es haben sollte, im Sport mehr Leistung als notwendig zu erbringen. Ich war beim Laufen vielleicht recht gemächlich unterwegs, aber immerhin, ich kam voran. Der Lehrer sagte meiner Mutter, er ginge davon aus, dass ich kein guter Schüler sein würde. Dann kam das Halbjahreszeugnis, und ich hatte einen Vorzug. Später das Jahreszeugnis, da genauso, und so blieb es bis zum Schluss. Der Lehrer sah ein, dass er sich mit seiner Einschätzung geirrt hatte.

Niemals empfand ich es als eine Form von Leistungserbringung, meine Pflichten als Schüler zu erfüllen. Das waren halt die Aufgaben, die man tagtäglich zu bewältigen hatte. Leistung? Leistung ist doch etwas, das anstrengt. Und die Schule strengte mich nie an.

Als ich auf die Uni kam, rechnete ich damit, mehr Zeit ins Lernen investieren zu müssen, um meinen Notendurchschnitt zu halten. Ich verbrachte tatsächlich mehr Zeit mit meinen Lehrbüchern, als ich in der Schule je getan hatte. Aber anstrengend? Das war es nicht. Nur machte ich an der Uni die Erfahrung: Für gute Noten zollt einem niemand Anerkennung. Ich hatte in allen drei Fachprüfungen des ersten Studienjahres - Chemie, Physik und Biologie für Mediziner - eine Eins, aber außer dem Prüfer wusste das niemand. So machte ich die Erfahrung, dass man auch als guter Student hin und wieder auf eine Prüfung eine schlechtere Note bekommen oder gar durchfallen konnte - was in der Schule kaum möglich war, weil die Lehrer einen kannten und Nachsicht walten ließen, wenn man mal einen schlechten Tag hatte.

Die Konsequenz all meiner Erfahrungen war dann letzten Endes, dass ich mich ab einem bestimmten Zeitpunkt damit begnügt habe, die Prüfungen zu bestehen. War die Note gut, freute ich mich, aber war sie nur knapp positiv, war das auch kein Malheur.

Manche Studenten versuchen freilich, immer nur gute Noten zu bekommen. Es kommt sogar vor, dass ein Student ein zweites Mal zur selben Prüfung antritt, obwohl er sie bereits beim ersten Versuch bestanden hat, nur um die Note zu verbessern. Ich gebe es zu: Ich habe das auch einmal gemacht. Aber da war ich noch recht jung und wollte mich nicht damit zufriedengeben, in einem Fach, das mich eigentlich interessierte, nur eine Drei zu haben. Später habe ich Prüfungen nur mehr wiederholt, wenn ich sie wiederholen musste, weil ich beim ersten Antritt durchgefallen war. Jedenfalls: Die besonders ehrgeizigen Studierenden, die immer oder fast immer Bestnoten schreiben, sind nicht unbedingt talentierter als andere Studenten. Ihnen ist lediglich, aus welchen Gründen auch immer, die Note wichtiger. Ein rationaler Grund dafür mag sein, dass sie glauben, dass nach dem Studium die potenziellen Arbeitgeber auf die Noten achten könnten. Dazu muss ich sagen: Mag sein; es ist aber Spekulation. Man weiß nicht, was einen nach dem Studium erwarten wird. Es ist genauso vernünftig, auf Nummer sicher zu gehen und sich auf alle Prüfungen besonders gründlich vorzubereiten, wie es vernünftig ist, sich das Leben leichter zu machen und eventuelle Nachteile beim Jobinterview in Kauf zu nehmen.

Wie dem auch so: Dass es sich lohnt, sich anzustrengen, hat mir mein Bildungsweg nicht vermittelt.

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