Eric Kandel und die Juden

Vorgestern war im Fernsehen eine Sendung über den Gedächtnisforscher Eric Kandel. Dazu würde ich gerne zwei Dinge bemerken.

Zuerst einmal: Erst gestern habe ich mich (beim Nachdenken über das, wovon ich im nächsten Absatz schreiben werde) erinnert, dass ich Kandel ja einmal persönlich begegnet bin und mit ihm einige Worte gewechselt habe. (Ich fragte ihn, ob er der Meinung ist, dass in nächster Zeit wieder einmal ein Österreicher den Nobelpreis bekommen werde, und er meinte, ja.) Dass ich nicht bereits während der Sendung an diese Begegnung gedacht habe, ist ein Beweis dafür, dass ich mittlerweile schon so lange in "gewissen Kreisen" verkehre, dass es für mich offenbar nichts Besonderes mehr ist, einem Nobelpreisträger persönlich begegnet zu sein.

Das Andere: Mehr noch als über die Forschung handelte die Sendung von Kandels Verhältnis zum Judentum, wobei es sich zeigte, dass seine emotionale Verbundenheit damit sehr stark ist. Für Kandel ist das Judentum ein Teil seiner "Identität", wie er selbst sagt. Meiner Meinung nach ist dieses emotionale Verhältnis aber eigentlich ein Beweis dafür, dass Kandel kein "echter" Jude im religiösen Sinn ist. Kandel sagte ja auch selbst im Film, er sei "überhaupt nicht orthodox". Ein orthodoxer Jude lebt ganz im Sinne der Torah; für ihn ist es selbstverständlich, Jude zu sein. Kandel hingegen ist säkular; er ist durch und durch Wissenschaftler und arbeitet an seinen Forschungen wohl ohne sich ständig zu fragen, ob die Ergebnisse seiner Tätigkeit mit den religiösen Lehren vereinbar sind. Dennoch - oder gerade deswegen - fühlt er sich dem Judentum stark verbunden, hält sogar manchmal vor jüdischen Gemeinden wissenschaftliche Vorträge. So erinnert Kandel mich an manche Bekannte von mir, die in eine Religionsgemeinschaft hineingeboren und religiös erzogen worden sind, aber als Erwachsene ihre Religion aufgaben und nun auf Facebook angeben, "Atheisten" zu sein. Diese Leute fühlen sich dem Atheismus emotional wohl ähnlich stark verbunden wie Kandel dem Judentum. Manche sind sogar "Kampfatheisten" und versuchen zu missionieren. Aber in bestimmten Situationen kommt die religiöse Prägung doch wieder zum Vorschein. Beispielsweise hat ein mir bekannter Kampfatheist, Mitglied des Vereins Mensa, vor einiger Zeit Stimmung gegen ein weibliches Mitglied desselben Vereins gemacht, weil es damals, ohne jemals verheiratet gewesen zu sein, mit dem vierten Kind vom vierten Mann schwanger war. Seine Vorbehalte sind in der katholischen Sexualmoral begründet, die ihn offensichtlich noch immer prägt, obwohl er sich selbst als Atheist bezeichnet und offensiv gegen Religion Werbung macht. Ich hingegen bezeichne mich auf Facebook nicht als Atheist, sondern in meinem Facebook-Profil steht: "Religious views: None". Das liegt daran, dass ich nie irgendeiner Religionsgemeinschaft angehört habe und überhaupt nicht religiös erzogen worden bin. So bin ich wie ein orthodoxer Jude - genau so, wie für ihn das Judentum eine Selbstverständlichkeit ist, ist es für mich eine Selbstverständlichkeit, keiner Religion anzugehören. Die emotionale Bindung zum Atheismus, die viele Neo-Atheisten haben, fehlt bei mir. Kandel hat eine solche emotionale Bindung zum Judentum, obwohl er Wissenschaftler und damit im Prinzip Atheist ist.

Allerdings kann ich es gut nachvollziehen, wenn man wie Kandel von der Religion seiner Vorfahren fasziniert ist. Ja, das Judentum hat eine gewisse Ausstrahlungskraft auf Menschen, für die es nicht zum Alltag gehört.

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