Tradition vs. Belesenheit

Ich lese gerade ein Buch über die Geschichte politischer Ideen. Die ersten Kapitel sind dem alten Griechenland gewidmet. Dabei zeigt sich, dass im alten Griechenland bei Gott nicht alles so demokratisch zuging, wie in der Schule behauptet wird. Vielmehr gab es unter den Philosophen Streit darüber, welche Staatsform die beste sei; viele Philosophen lehnten die Demokratie ab und sprachen sich für eine Aristokratie aus, also für die Herrschaft einer Elite, wobei oft das folgende Argument gebracht wurde: Um vernünftige Urteile treffen zu können, genüge nicht der Hausverstand, über den das Volk verfügt, sondern es bedürfe auch einer Tradition, also eines Erfahrungsschatzes, der von Generation zu Generation weitergegeben werde; deswegen seien nur hervorragende Männer aus herausragenden Familien als Führungspersönlichkeiten geeignet.

Diese Überlegung hat mich zu folgendem Gedankengang veranlasst: In der heutigen Zeit ist es relativ problemlos möglich, Bildung zu erwerben, wenn man Interesse und Zeit dazu hat. Man kann sich sehr viel Wissen aus Büchern aneignen, manches sogar aus dem Internet, was noch einfacher, schneller und unproblematischer geht. Dadurch ist eine Schicht entstanden, die nicht über die Tradition der klassischen "Elite" verfügt, aber sich viel Wissen aus schriftlichen Quellen angeeignet hat. Welche soziale Schicht wäre denn für Führungsaufgaben im Staat besser geeignet? Was meint ihr?

Ich habe ja den Eindruck, dass im Hochschulwesen sehr auf Tradition Wert gelegt wird. Einen "Emporkömmling" macht man nicht ohne Weiteres zum Universitätsprofessor. Gut erinnere ich mich noch daran, wie ich zu Beginn des 3. Semesters meinen Anatomielehrer mit "Guten Tag" begrüßte; er verzerrte zunächst das Gesicht und äffte mich dann nach. Warum? Den Grund erfuhr ich erst später: In Österreich gilt "Guten Tag" als Gruß der Sozialdemokraten; dieser Professor war aber ein Konservativer. Konservative grüßen in Österreich mit "Grüß Gott". An meinem Gruß hat er also erkannt, dass ich nach seinen Maßstäben ein Emporkömmling war. Im Weltbild der Konservativen ist sozialer Aufstieg nicht vorgesehen; die Schule hat einzig die Aufgabe, auf scheinbar objektive Weise die Menschen niederer Herkunft auszusortieren, um ihnen den Zugang zu Schlüsselfunktionen zu verwehren.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

The Demoscene

Digital Art Natives

Autobiographical Sketch