Das leidige Thema "Begabung"...

Ich weiß, dass ich in den vergangenen Jahren schon viel zu viel über Themen wie Intelligenz und Hochbegabung geschrieben habe. Dennoch schreibe ich noch einen Text zu diesem Thema, weil mir nun klar geworden ist, welche die wichtigste Erfahrung gewesen ist, die ich in Zusammenhang mit dieser Thematik gemacht habe.

Als im Jahr 1997 der "7. Wiener Mathematik- und Denksportwettbewerb" ausgeschrieben war, wusste ich bereits von diesem Wettbewerb, bevor wir offiziell von unserem Mathematiklehrer darüber informiert wurden, weil ich in einer Mailbox (Vorläufer des Internets) davon gelesen hatte. Deshalb wartete und wartete ich darauf, dass der Lehrer doch endlich kommen und uns zur Teilnahme an diesem Wettbewerb einladen möge. Schüchtern, wie ich war, kam ich nicht auf die Idee, den Lehrer direkt darauf anzusprechen. Aber eines Tages kam der Lehrer doch in die Klasse und sagte mit gepresster Stimme, es werde demnächst ein Mathematik-Wettbewerb stattfinden. Er glaube zwar nicht, dass irgendjemand von unserer Klasse daran teilnehmen wolle. Aber er sei verpflichtet, uns darüber zu informieren. Der Lehrer war sichtlich erstaunt, als ich und zwei weitere Schüler ihr Interesse bekundeten und er uns zu diesem Wettbewerb anmelden musste.

Umso mehr noch war der Lehrer überrascht, als ich in diesem Wettbewerb als Zweitbester (von 149 Teilnehmern aus Gymnasien aus ganz Wien) abschnitt - ich hatte 9 von 10 Beispielen richtig gelöst (beim zehnten hatte ich mich verrechnet), und es hatte nur eine einzige Teilnehmerin gegeben, die alle zehn richtig hatte. Für meinen Mathematiklehrer galt ich seitdem als "hochbegabt".

Dass der Lehrer uns seinerzeit nur widerwillig darüber informierte, dass dieser Wettbewerb stattfinden würde, lässt mich vermuten, dass er tatsächlich nicht damit rechnete, dass jemand von uns an diesem Wettbewerb Interesse haben und noch dazu darin gut abschneiden würde.

Für unseren Lehrer war klar, dass es in diesem Wettbewerb weniger auf Erlerntes ankommen würde, sondern mehr auf Intelligenz und Begabung. Deswegen galt ich seit meinem "herausragenden" Abschneiden in diesem Wettbewerb als "hochbegabt".

Mir selbst war nicht bewusst, dass mein Abschneiden in diesem Wettbewerb sogar noch ein stärkeres Indiz für eine Hochbegabung darstellte, als es ein gutes Abschneiden in einem standardisierten Intelligenztest gewesen wäre, denn Intelligenztestaufgaben kann man ja üben. Im Buchhandel sind Bücher erhältlich, die typische Intelligenztestaufgaben enthalten - Zahlenreihen, geometrische Muster, Wortanalogien und so weiter. Ein gutes Abschneiden in einem Intelligenztest kann nicht nur von Begabung rühren, sondern auch von Übung - wer viel übt, kann fehlende Begabung wettmachen. Auf mathematische Textaufgaben, wie sie in diesem Wettbewerb vorkamen, kann man sich hingegen viel weniger vorbereiten. Wer in einem solchen Wettbewerb gut abschneidet, muss also tatsächlich begabt sein.

Warum aber hatte der Lehrer nicht erwartet, dass jemand von uns an diesem Wettbewerb Interesse haben und gut abschneiden könnte?

Offenbar hatte der Lehrer keinen von uns für "hochbegabt" gehalten. Und das ist die Problematik, weswegen ich diesen Text schreibe: Lehrer orientieren sich offenbar an irgendwelchen Vorstellungen, wie hochbegabte Schüler seien und wie sie sich im Unterricht verhalten, die gar nicht zutreffen. Dadurch werden viele tatsächlich bestehende Begabungen nicht erkannt und auf der anderen Seite möglicherweise auch einzelnen Schülern Begabungen zugeschrieben, die sie gar nicht haben.

Wer weiß, wie viele meiner Mitschüler wohl hochbegabt waren! Ich glaube gar nicht, dass ich der einzige gewesen bin.

Die Problematik besteht aber nicht nur in der Schule, sondern auch im weiteren Leben. Die Begabungen werden nicht erkannt.

Ich bin unter dem besonderen Umstand aufgewachsen, dass bei mir die Begabung erkannt worden ist. Im Hochintelligenzverein, in dem ich während meiner Studienzeit Mitglied war, bin ich aber auch vielen älteren Erwachsenen begegnet, die von niemandem als hochbegabt erkannt worden waren und erst seit kurzem von ihrer Begabung wussten. Viele von ihnen hatten - man glaubt es kaum - ein leichteres Leben gehabt als ich. Denn nicht wissend, dass sie begabt waren, fühlten sie auch keine Verpflichtung, etwas aus ihrer Begabung zu machen, und richteten sich ihr Leben gemütlich auf niedrigem Niveau ein und verdienten ihr Geld, ohne sich körperlich oder geistig jemals allzu sehr anzustrengen.

Es gibt also noch eine zweite Problematik, die einer Diskussion würdig wäre. Was ist die Aufgabe der Hochbegabten in der Gesellschaft? Gibt es überhaupt eine solche Aufgabe? Die Meinungen darüber gehen weit auseinander. Wer meint, Begabte müssten verpflichtet sein, besondere Leistungen zu erbringen, vergisst, dass auch Begabte nur Menschen sind. Begabte links liegen zu lassen oder sie gar zu benachteiligten, stellt das andere Extrem dar. In der Realität kommt aber beides vor. Auf die Idee, dass man Begabte einfach so behandeln könnte wie jeden anderen Menschen auch, kommen leider die Wenigsten.

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